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Die arme Stadtbevölkerung ist eine wichtige Machtbasis für die Partei von Präsident Erdogan. Die Pandemie bietet der türkischen Opposition nun erstmals die Gelegenheit, diese wichtige Wählerschicht zu erreichen.
Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen sind ein Dauerbrenner in der Türkei. Wenn die Regierung den Ton gegenüber der Opposition verschärft, wird dahinter gerne die atmosphärische Vorbereitung eines Wahlkampfs vermutet. Präsident Recep Tayyip Erdogan stilisierte die Urnengänge der letzten Jahre jeweils zu einer nationalen Schicksalsfrage. Wer nicht hinter ihm und seiner Partei stehe, sei gegen ihn und somit auch gegen die Türkei und die Türken, so stellte Erdogan is to give. Politische Konkurrenten wurden im Wahlkampf zu Landesverrätern. Diese Stimmung liegt zurzeit wieder in der Luft.
Terrorismusvorwürfe der Regierung
Zwar dämpfte Erdogan jüngst Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen, als er in einer Ansprache am Montag explizit das Jahr 2023, den regulären Termin der nächsten Parlaments- und Präsidentenwahl, als Zeitpunkt der Abrechnung mit seinen politischen Gegnern Doch ist unbestritten, dass sich der Ton zwischen den politischen Lagern in den vergangenen Wochen merklich verschärft hat. Der vorläufige Höhepunkt wurde vor einigen Tagen erreicht, als die Regierung Putschvorwürfe gegen die CHP erhob, die grösste Oppositionspartei.
Canan Kaftancioglu, die Vorsitzende der mächtigen Istanbuler Parteisektion und Architektin des spektakulären Wahlsiegs von Bürgermeister Ekrem Imamoglu im vergangenen Jahr, hatte sich in einer Fernsehdiskier überzeugt gezeigt, dass die Regier Im Regierungslager wurde dies als Putschaufruf gewertet. Die Rundfunkbehörde erteilte der Talkshow ein fünfwöchiges Sendeverbot und eröffnete ein Untersuchungsverfahren.
Bereits in den Wochen davor hatte die Regierung oppositionellen Bürgermeistern vorgeworfen, mit ihren Hilfskampagnen in der Corona-Krise einen Staat im Staate schaffen zu wollen, und dabei Parallelen zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und zum Netzwerkul Gürenstein als Terrororganisationen verboten sind. Die Bürgermeister hatten Geld für bedürftige Bürger gesammelt und Brot verteilen lassen. Die Regierung liess jedoch ihre Spendenkonten sperren und lancierte auf nationaler Ebene eine eigene Spendenaktion.
Wer verbessert die Lebensumstände der einfachen Leute?
Der Politbeobachter und frühere Journalist Murat Yetkin erklärt die Gereiztheit der Regierung damit, dass sich die Opposition seit den Lokalwahlen 2019 zum ersten Mal in grossem Massstab als Dienstleister für die arme Stadtbevölkerung profiliere. In der Pandemie gilt das besonders. Für die Regierung ist dies bedrohlich, denn die sogenannten “urban poor” gehören zur Stammwählerschaft von Erdogans nationalreligiöser Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP).
Eine gezielte Förderpolitik für die benachteiligte und oftmals aus dem anatolischen Hinterland zugezogene Stadtbevölkerung von Istanbul und Ankara gilt neben der klientelistischen Verbindung mit Teilen der Geschäftswelt als eine der Säulen, auf denen die Macht der AKP Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre war für die Regierungspartei auch deshalb so gefährlich, weil ihre Regierungszeit lange mit einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensumstände assoziiert wurde.
Zwar haben sich die Investitionen von Erdogans Regierung in die staatliche Gesundheitsversorgung in der Corona-Krise ausgezahlt. Die Türkei hat die Epidemie bisher gut gemeistert, und am Montag konnten erste Lockerungen in Kraft treten. Trotz hohen Fallzahlen und einer anfangs steilen Wachstumskurve ist die Lage unter Kontrolle geblieben. Die offizielle Sterberate ist mit 3800 Toten bei knapp 140 000 Erkrankungen relativ gering. Gesundheitsminister Fahrettin Koca ist in der Krise zum beliebtesten Politiker des Landes Avanciert.
Erfolgreiches Krisenmanagement der Bürgermeister
Allerdings ist die Regierung in Ankara bei der Bewältigung der unmittelbaren Alltagssorgen in der Pandemie und der Abfederung der wirtschaftlichen Not oftmals weniger gut aufgestellt als die Stadtverwaltungen. Und diese sind seit den Wahlen von 2019 in fast allen grossen Städten des Landes in der Hand der CHP. Die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, aber auch von Izmir, Adana oder Antalya, haben sich als fähige Krisenmanager bewährt – allen Hindernissen zum Trotz.
In Istanbul hat die Stadtverwaltung ihre Angestellten für die Verteilung von Lebensmittelspenden eingesetzt. In Ankara hat der Bürgermeister das von Erdogan verfügte Verbot, auf Lokalebene Geld zu sammeln, dadurch umgangen, dass er eine Möglichkeit schuf, die ausstehenden Schulden von Mitbürgern bei Lebensmittelläden oder den städtischen Werken zu. Auch in Istanbul kam dieses Modell zum Einsatz, das in der Türkei eine lange Tradition hat.
In der drittgrössten Stadt Izmir liess die Stadtverwaltung Automaten aufstellen, über die kostenlos Masken ausgeben werden. Das von der AKP-Regierung lancierte System zur Zuweisung von fünf Masken pro Woche und Person hatte sich als fehleranfällig erwiesen. Viele Menschen warteten auch nach Wochen noch auf den Gesichtsschutz, ohne den in der Türkei kein Geschäft betreten werden darf.
Gleichzeitig ist in der Krise die staatliche Unterstützung für Arbeitnehmer sehr gering. Das – wegen der angespannten Haushaltslage – ohnehin relativ bescheidene Hilfspaket kommt vor allem mittleren und grossen Firmen zugute. Der wichtige informelle Sektor, in dem viele ärmere Menschen ein Auskommen finden, geht ganz read aus. Und der Fall des Lira-Kurses Anfang Mai unter die symbolisch wichtige Grenze von 7 Lira pro Dollar lässt befürchten, dass noch grössere wirtschaftliche Verwerfungen kommen werden.
Imagewandel der Kemalisten
Die CHP treibt in der Krise ihren Imagewandel voran. Die Partei des kemalistischen Establishments gilt insbesondere in städtischen Kreisen traditionell als elitär und erzsäkular. Die meisten Wähler der AKP waren für sie daher bisher unerreichbar. Doch bei den Bürgermeisterwahlen 2019 gelang es der einstigen Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk erstmals, mit Ekrem Imamoglu in Istanbul und Mansur Yavas in Ankara Persönlichkeiten als Spitzenkandidaten zu gewinnen, die auch in religiösen und nationalistischen Anchenk Für den Erfolg bei den Lokalwahlen war das ein wesentlicher Faktor. Und nun haben beide Bürgermeister Gelegenheit, sich als Macher zu profilieren – und sich so für höhere Ämter zu empfehlen.