Wie Verschwörungstheoretiker den Diskurs kapern



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Die Stimmung schlägt um. Immer mehr Bürger üben Kritik an den deutschen Pandemie-Massnahmen. Agitatoren versuchen diese Lage zu nutzen, um Aufruhr und Umsturzphantasien in die Gesellschaft zu tragen.

Vergangenes Wochenende auf dem Cannstatter Wasen: Der Aktivist und Youtuber Ken Jebsen bei seinem Auftritt an einer von der Initiative Querdenken 711 organisierten Demo gegen Corona-Beschränkungen.

Vergangenes Wochenende auf dem Cannstatter Wasen: Der Aktivist und Youtuber Ken Jebsen bei seinem Auftritt an einer von der Initiative Querdenken 711 organisierten Demo gegen Corona-Beschränkungen.

Arnulf Hettrich / Imago

Wenn Ken Jebsen loslegt, dann gibt is kein Halten mehr. Wie ein Ablassprediger auf Speed ​​hämmert der 53-Jährige mit Worten auf sein Publikum ein: das Coronavirus? Ein trojanisches Pferd, das die Bürger ohnmächtig machen soll. Dazu eine Bundesregierung ohne Legitimität, die sich “am Grundgesetz vergreift”. Die Bundesrepublik – seit 1949 nichts anderes als eine “Demokratiesimulation”. Und immer wieder: “Bill and Melinda Gates.” Das amerikanische Milliardärs-Ehepaar wolle eine «Gesundheitsdiktatur» errichten. Ihr Ziel: Deutschland kapern.

Am Wochenende ist Jebsen in Stuttgart als Einheizer an der bisher grössten Demonstration gegen die Pandemiemassnahmen der Bundesregierung aufgetreten. Online verbreitet der ehemalige Moderator, der 2011 wegen Antisemitismusvorwürfen aus dem öffentlichrechtlichen Rundfunk ausschied, schon seit Jahren seine Weltsicht über die Plattform KenFM. Millionen Menschen click seine Videos an. Unter allen Verschwörungstheoretikern in Deutschland, die das Unbehagen vieler Bürger an den staatlichen Einschränkungen ihrer Rechte ausnutzen wollen, ist er mit Abstand der Geschickteste.


Von blindem Eifer getriebene Agitation

Tatsächlich versuchen nicht Bill und Melinda Gates, Deutschland zu kapern. Vielmehr schlagen Jebsen und Konsorten ihre Enterhaken in die öffentliche Debatte im Land. Wo einordnende Sachlichkeit in der zweifellos berechtigten Kritik am Corona-Management von Bund und Ländern gefragt wäre, machen die Verschwörungstheoretiker den demokratischen Diskurs diffus. Statt zu differenzieren, denounce sie. Legitimen Protest verwandeln sie in von blindem Eifer getriebene Agitation. Geht es nach ihrem Willen, soll aus dem spürbaren Stimmungswandel in Deutschland wilder Aufruhr entstehen.

Auch wenn bisher nur eine kleine, laute Minderheit aktiv geworden ist, sind Politiker und Behörden alarmiert. Die Bundesjustizministerin, mehrere Innenminister aus Ländern, der Präsident des Bundeskriminalamtes, Spitzenfunktionäre der Parteien und auch der Vorsitzende des Zentralrats der Juden haben sich warnend zu Wort gemeldet: Die Bürger möchten es sichut güten über, Linksautonomen, Kapitalismuskritikern und Esoterikern auf die Strasse gehen wollten. Denn das bedeute, sich mit den Ansichten dieses disparaten Zusammenschlusses gemeinzumachen.


Bis zu ein Viertel der Deutschen anfällig

Die Sorge ist berechtigt. Die Zahl der Aktivisten mag noch überschaubar sein, ihr potenzielles politisches Reservoir aber ist gross. Laut diversen Studien sind 20 bis 25 Prozent der Deutschen anfällig für Verschwörungserzählungen aller Art. Die «Infodemie», die derzeit laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit neben dem Coronavirus grassiert, verbreitet sich auch in Deutschland mit hohem R-Wert.

Anhänger von Verschwörungstheorien allerdings in der Logik von Seuchenärzten bloss als «Spinner» zu pathologisieren und im Weiteren auf Heilung oder Exitus zu warten, wird der Sachlage nicht gerecht. Dafür drängen ihre randständigen Positionen über die Verstärker Web und Social Media zu sehr in die Mitte der Gesellschaft.


Die Mechanik der Mythen ist immer die gleiche

Ob Pegida oder nun die Konspirationisten-Plattform Querdenken – die Mechanik der Mythen ist immer die gleiche. Der amerikanische Politologe Michael Barkun definiert Verschwörungstheorien mit drei Merkmalen: Ihre Anhänger glaubten, dass nichts durch Zufall geschehe. Nichts sei überdies, wie es scheine. Und alles hänge mit allem zusammen. Hinter einem solchen geschlossenen System stünden Verschwörer, die nicht weniger erreichen oder ausbauen wollten als ihre Herrschaft über Institutionen, Staaten und manchmal sogar die ganze Welt.

Der Vorteil solcher Systeme ist: Sie machen Krisen erklärbar. Daraus ableitbare, stets eindeutige Erklärungsmodelle helfen in überkomplexen Lagen wie der gegenwärtigen Pandemie, die grosse allgemeine Unübersichtlichkeit zu reduzieren.


Jüdische «Brunnenvergifter» als Sündenböcke

Als die Ärzte Mitte des 14. Jahrhunderts die grosse Pestepidemie in Europa nicht verstehen konnten, mussten die Juden als Sündenböcke herhalten. Sie hätten Brunnen vergiftet und damit den Schwarzen Tod verursacht, hiess es. Pogrome waren die Folge, Hunderttausende wurden dabei ermordet. Heute werden nicht minder absurde Theorien aufgestellt: Laut Ken Jebsen steckt die Familie Gates hinter der Corona-Krise, weil sie entweder Impfexperimente durchführen oder an die digitalen Identitäten der Deutschen kommen wolle, um damit Geschäfte zu machen.

Die Mainzer Sozialpsychologin Pia Lamberty beschreibt die Sachlage in einem Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung so: Krisen wie die gegenwärtige Pandemie erlebten manche Menschen stark als Kontrollverlust. Verschwörungserzählungen brächten wieder Struktur ins Leben, sie kompensierten den Kontrollverlust. Daneben bedienten diese Mythen das «Bedürfnis nach Einzigartigkeit» vieler Menschen. Durch ihr vermeintliches «Spezialwissen» könnten vor allem weniger Gebildete (in dieser Gruppe finden sich laut ihr die meisten Anhänger von Verschwörungstheorien) sich selbst überhöhen und den Makel eines formal niedrigeren Bildungsgrades ausgle


Grundrecht auf Dummheit

Die unentbehrliche Kulturtechnik des kritischen Hinterfragens wird von Verschwörungstheoretikern dabei gern als ihre grundlegende Tugend angeführt. Sie gilt in den allermeisten Fällen allerdings nur dort, wo es ihnen genehm ist und nicht die eigenen Positionen betrifft. Die Meinungsfreiheit dagegen wird von den Konspirationisten in einem Masse strapaziert, dass sie gleichzeitig auch vom “Grundrecht auf Dummheit” (so nannte es der verstorbene Verfassungsjurist und Bundespräsident Roman Herzog) üppigen Gebrauch machen.

Hinter alldem stehen natürlich auch handfeste Interessen: Eine vom Leipziger Rechtsanwalt Ralf Ludwig und dem Sinsheimer HNO-Arzt Bodo Schiffmann gegründete Gruppe namens Widerstand 2020 versucht, den Protest institutionell zu kanalisieren. Ihre Unterlagen zur Parteigründung werden derzeit geprüft. Russische Propagandakanäle wie RT Deutsch oder Sputnik nutzen die Stimmung unterdessen für ihre Zwecke. Und die AfD, die seinerzeit parallel zu Pegida erst richtig gross geworden ist, versucht, ihren verlorenen populistischen Elan wiederzufinden, indem sie ungelenk auf der Protestwelle mitsurft.


Von der Dissidenz über die Querulanz zur absolten Negation

Der führende deutsche Konspirationismus-Forscher, der Tübinger Amerikanist Michael Butter (“Nichts ist, wie es scheint”, Suhrkamp, ​​2018), sieht kein neues Zeitalter der Verschwörungstheorien aufkommen. Davon habe is in früheren Jahrhunderten deutlich mehr gegeben. Und diese hätten bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineingereicht. Zuweilen aber genügt es auch schon, wenn sich ein kleines Fähnlein Unbelehrbarer von der Dissidenz über die Querulanz und hin zur absolten Negation aufmacht.

In seinem jüngsten Eintrag im «Montagsblock» des «Kursbuchs» sieht der Münchner Soziologe Armin Nassehi die These seines Buches «Das grosse Nein» (Kursbuch-Kulturstiftung, 2020) bestätigt. Nämlich: “Protest reagiert vor allem darauf, dass die Protestierenden meinen, dass ihr Anliegen in den institutionalisierten Nein-Stellungnahmen in parlamentarischer Opposition oder in Gerichtsverfahren oder auch bei anderen Entscheidungsträgern nicht angemessen berücksicht”


“Du musst deinen Arsch auf die Strasse bringen”

Daraus ergibt sich das grosse Nein – eine grundlegende Ablehnung des Staates, des Systems Deutschland und der zivilisierten Diskussion. Ken Jebsen formulauliert das etwas schlichter, bringt es im «Gates kapert Deutschland» -Video aber unmissverständlich so auf den Punkt: Er akzeptiere «auf dem Weg zur Front» kein rechts und kein links mehr und rufe offen zum Umsturz auf. “Du musst deinen Arsch auf die Strasse bringen. Du musst dich über eine illegale Regierung hinwegsetzen. Das ist nicht nur dein Recht, es ist auch deine Pflicht. »

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